Wenn wir nun fragen, unter welchen Umständen, auf welcher ätiologischen Basis sich diese reichlichen Fettansammlungen entwickeln, so ist es allbekannt. dass dieselben mit Vorliebe bei ganz bestimmten Kategorien von Menschen beobachtet werden. Wir wissen, dass Leute, welche reichlich und gut zu essen pflegen und oft auch viel geistige Getränke geniessen, ohne dass sie körperlich oder geistige Anstrengungen zu ertragen haben, abnorm viel Fett ansetzen und keine Diät machen. Ein begünstigendes Moment ist über dies ein friedliches Leben, welches nicht durch heftige Gemütsbewegungen oder Leidenschaften erschüttert wird, und es lässt sich gewiss darüber streiten, ob das Phlegma mehr die Ursache oder die Folge des reichlichen Fettansatzes ist. Die zuletzt angeführten Momente, welche der harte Kampf um’s Dasein mit sich bringt, sind naturgemäss bei Männern weit mehr wirksam als bei Frauen. Wenn nun auch manche Männer bestrebt sind, die Ungleichheit und Benachteiligung, welche ihnen das Schicksal im Vergleich mit dem weiblichen Geschlecht zudiktierte, durch grössere Vorliebe für den Alkohlgenuss zu kompensieren, so ist das nicht die Regel und bei den besseren Ständen im Allgemeinen doch relativ selten der Fall. Aus diesen Erörterungen erhellt wohl wenigstens der wesentlichste Grund, aus welchem in den besseren Ständen unter sonst gleichen Verhältnissen der Lebensweise, die Frau mehr zu reichlichem Fettansatz zu neigen scheint, als der Mann. St. Germain schiebt die grosse Prädisposition der Frauen für die Fettleibigkeit lediglich auf die Trägheit, in der sie leben. Nur die Wäscherinnen und Köchinnen finden in diesem Punkte vor ihm Gnade. Seine Angaben, dass die Witwer abmagern und die Witwen fett werden, beruht wohl nicht auf einer breiten tatsächlichen Basis, wenigstens hier in Deutschland nicht. Dass die körperliche Ruhe auch unter keineswegs beneidenswerten Verhältnissen den Fettansatz fördert, lehren die Personen , welche in Gefängnissen bei jahrelanger Haft ein reichliches Fettpolster bekommen. Dass ebenso wie der Mangel ausreichender Körperbewegung auch der Mangel an Sonnenlicht an der Entwickelung der Fettleibigkeit einen grossen Anteil hat, dürfte durch die Erfahrungen bei der Tiermästung ausreichend bewiesen sein. Recht naiv klingt der Beweis, den Chambers antritt, um zu beweisen, wie günstig der Mangel an Sonnenlicht für die Entwickelung der Fettsucht ist. Er schildert sehr ernsthaft, wie ein Mann. welcher in dem Keller einer Brauerei fett geworden war, mager wurde, als er in demselben Geschäft als Diener eintrat. Dass er sein Fettpolster in den Kellern der Brauerei aber trotz grosser Mässigkeit sich erworben hätte, dürfte nicht viel gläubige Seelen finden. – Blutarme tendieren zur Fettbildung und zum vermehrten Fettansatz, indem mit der Verminderung der roten Blutkörperchen die Zahl der Sauerstoffträger vermindert, und die Oxydation dadurch eine mangelhafte und unzureichende wird. Auf diese Weise verschwindet das anscheinend Paradoxe eines ärztlichen Erfahrungssatzes, dass die Fettsucht, als ein allerdings nicht erfreuliches Embonpoint, als Symptom des Sichthums in den frühesten Stadien schwerer Erkrankungen auftritt, wobei das Fett natürlich sehr bald wieder verschwindet. Daraus erklärt sich ferner, wenigstens zum Teil, warum nach schweren Krankheiten und grossen Blutverlusten sich nicht selten hochgradige Fettleibigkeit entwickelt. In solchen Fällen wirkt freilich auch die als Ersatz für die erlittenen Verluste oft in überhasteter Weise eingeführte zu grosse Nahrungsmenge als ein begünstigendes Moment. Einen sehr grossen Einfluss schreibt man ferner in der Ätiologie der Fettleibigkeit den Störungen der geschlechtlichen Funktionen zu. Der direkte Einfluss derselben auf den vermehrten Fettansatz ist meiner Ansicht nach vielfach und erheblich überschätzt worden. Bekannt ist es ja, dass man bei weiblichen Tieren die Eierstöcke exstirpirt, um die Mästung zu erleichtern. Es werden auch vereinzelte Fälle von Fettsucht beim männlichen Geschlecht berichtet, welche sich zur Zeit der Pubertät ziemlich plötzlich bei Individuen mit mangelhafter Entwickelung der Hoden und des Penis einstellte. Daraus , dass in solchen Fällen die Therapie Erfolge bei der Behandlung der Fettsucht aufzuweisen hatte, lässt sich von vornherein erschliessen, dass die doch ruhig fortbestehende Hemmungsbildung des Geschlechtsapparates nicht die grundlegende Ursache für die Fettleibigkeit gewesen sein kann. Auch sind die Angaben der Schriftsteller über den Einfluss der Kastration bei Menschen auf die Körperbeschaffenheit ausserordentlich verschieden. Es geben nämlich wohl fast ebenso viel Beobachter an. Dass die Eunuchen fett werden, als andere das direkte Gegenteil behaupten, während noch andere berichten, dass die Eunuchen weder fetter noch magerer seien als andere Menschen.
Pharmig/Ursachen der Fettsucht